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Deutschland Flüchtlingshilfe

„Meine größten Feinde sind meine größten Helfer“

Ein Boot voller Kinder kommt auf Lesbos an. Die Helfer versorgen sie, nicht nur medizinisch Ein Boot voller Kinder kommt auf Lesbos an. Die Helfer versorgen sie, nicht nur medizinisch
Ein Boot voller Kinder kommt auf Lesbos an. Die Helfer versorgen sie, nicht nur medizinisch
Quelle: Yotam Polizer
Eine israelische Organisation hilft traumatisierten Flüchtlingen, auch auf Lesbos. Sie will so die Barriere zwischen den verfeindeten Ländern Syrien und Israel abbauen. Nächster Stopp: Deutschland.

Die Frauen und Männer von IsraAid stehen an den Ufern von Lesbos. Jener griechischen Insel, auf der Tausende Flüchtlinge landen. Wenn die Mitarbeiter der israelischen Hilfsorganisation als Erste syrische Flüchtlinge in Griechenland in Empfang nehmen, erleben sie immer wieder die gleiche Reaktion: Die Ankömmlinge sind überrascht, bei der Ankunft in Europa auf Israelis zu treffen. Die meisten überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben.

„Wir versorgen die Flüchtlinge am Strand von Lesbos mit Medizin. Wir nehmen sie auch in die Arme“, sagt Yotam Polizer der „Welt“. Der 33-jährige Israeli koordiniert weltweit die internationalen Einsätze seiner Organisation, hält Kontakt zu den Partnern in den Ländern.

„Einmal begegnete ich einer sehr gebildeten syrischen Familie in Lesbos, der Vater hat in Syrien als Arzt gearbeitet“, erzählt Polizer und schildert ihre Begegnung. „Der Vater erzählte mir, dass er geschockt war, als er merkte, dass die Helfer Israelis waren. Er sagte: ‚Meine größten Feinde sind meine größten Helfer geworden. Und die Menschen, die mich eigentlich hätten beschützen sollen in dem Land, in dem ich lebte, haben mich davongejagt.‘“

Viele wollen direkt weiter nach Deutschland

Für Polizer war nach diesem Erlebnis klar, dass seine Arbeit die Möglichkeit bietet, die Barrieren zwischen den verfeindeten Ländern Syrien und Israel abzubauen. „Durch die Begegnung mit uns können sie sehen, dass wir keine Monster sind, was sie eigentlich ihr Leben lang gelernt haben“, sagt der Israeli nachdenklich.

Viele der Flüchtlinge ziehen nach der Ankunft in Griechenland weiter nach Deutschland. Einige bleiben über die sozialen Netzwerke wie Facebook in Kontakt mit Polizer und den anderen Helfern von IsraAid. Und wenn alles klappt, wird Polizer sie in Deutschland wiedertreffen.

2013 traf die Philippinen einer der stärksten Taifuns. Yotam Polizer steht vor einem der vielen zerstörten Häuser
2013 traf die Philippinen einer der stärksten Taifuns. Yotam Polizer steht vor einem der vielen zerstörten Häuser
Quelle: Yotam Polizer

Gegründet wurde IsraAid 2001, doch erst nach dem Erdbeben auf Haiti 2010 begann die nichtstaatliche Organisation mit Langzeitprojekten an verschiedenen Orten auf der Welt. IsraAid konzentrierte sich zunächst auf die Hilfe für Menschen, die nach Naturkatastrophen traumatisiert sind. Mit einem Team von mehr als 135 Spezialisten ist die Organisation weltweit unterwegs und wird vor allem von privaten Spendern finanziell unterstützt.

Das derzeitige Hauptprojekt von IsraiAid ist aber die Arbeit mit Flüchtlingen. „Wir arbeiten bereits in Jordanien, der Autonomen Region Kurdistan im Irak, in Griechenland (Lesbos) und Mazedonien“, sagt Polizer. „Nun wollen wir auch in Deutschland die Helfer und Spezialisten unterstützen, mit jüdischen wie arabischen Israelis.“

Da liegt allerdings auch die Krux. Denn nicht alle Helfer der Organisation wollen als Israelis erkannt werden. Gerade für manche israelische Araber, die bei IsraAid tätig sind, ist eine klare Identifikation mit dem Judenstaat problematisch. Sie sind zerrissen zwischen der Solidarität mit den Palästinensern und ihrer israelischen Staatsangehörigkeit. Daher verzichten sie oft darauf, im Kriseneinsatz die schwarzen IsraAid-T-Shirts zu tragen. Der Nahost-Konflikt spielt sogar innerhalb einer Hilfsorganisation eine Rolle.

Polizer mit einer Flüchtlingsfamilie
Polizer mit einer Flüchtlingsfamilie
Quelle: Yotam Polizer

Selbstredend sind aber gerade die israelischen Araber in der aktuellen Flüchtlingskrise besonders geeignet. Im Oktober vergangenen Jahres baute Yotam Polizer, der aus dem Norden Israels stammt, erste Kontakte in Deutschland auf. Es geht ihm vor allem um Syrer. Mehr als 55 Prozent der syrischen Bevölkerung haben seit dem Beginn des Bürgerkrieges 2011 ihr Zuhause verlassen und befinden sich auf der Flucht. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und das American Jewish Committee (AJC) konnte Polizer unter anderen bereits für die Arbeit von IsraAid gewinnen.

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Doch warum gerade Deutschland? „Es fehlen in Deutschland Arabisch sprechende Spezialisten“, weiß Polizer. Das hätten ihm auch Politiker erzählt, die er getroffen habe. „Natürlich gibt es in Deutschland genug Spezialisten, die wunderbare Arbeit leisten. Nur die Sprachbarriere kann zu Missverständnissen und Unmut führen.“ Deswegen wird IsraAid aus den eigenen Reihen gezielt arabische Spezialisten nach Deutschland entsenden, die dann gemeinsam mit den deutschen Psychologen arbeiten. Diese Kombination finden Polizer und seine Teammitglieder sehr spannend. „Es kommen sowohl Deutsche als auch jüdische sowie arabische Israelis zusammen, um mit syrischen Flüchtlingen in Deutschland zu arbeiten“, sagt Polizer mit Begeisterung. „Ich finde, ein besseres Drehbuch für einen Film könnte man nicht schreiben. Für alle Beteiligten bekommt das eine wichtige historische und emotionale Bedeutung.“

Sehr bald soll es losgehen. „Unser Programm wird schon Ende Februar dieses Jahres beginnen“, kündigt Polizer an, der seit mehr als fünf Jahren in Japan lebt, nachdem er dort nach dem Tsunami half. Doch er wird nun immer wieder nach Deutschland kommen, um das Programm zu betreuen: „Wir schicken zunächst drei bis vier Spezialisten, die für die nächsten zwei Jahre in Deutschland sein werden. Schon jetzt haben wir viele Freiwillige, die uns in unserer Arbeit mit den Flüchtlingen unterstützen wollen.“ Zum Beispiel die Jüdische Gemeinde in Berlin.

„Wir sind der Meinung, dass Deutschland schon sehr viel für die Flüchtlinge tut, wir sind beeindruckt von der Hilfe, die die Deutschen bieten“, so Polizer. „Trotzdem sollte nicht vergessen werden, dass mit Menschen gearbeitet wird, die viel erlebt haben und die aus einem ganz anderen kulturellen Hintergrund kommen. Wir finden es wichtig, viel über die andere Kultur zu lernen, um den Menschen noch besser helfen zu können.“

Für Flüchtlinge ist der Zugang zum Internet wichtig

Oft wissen die deutschen Helfer nicht, was die Flüchtlinge wirklich durchlebt haben. Genau dort möchte IsraAid ansetzen. Die Organisation will die Ehrenamtlichen schulen, zum Beispiel im aktiven Zuhören. „Nur so kann eine Brücke zwischen den Flüchtlingen und den deutschen Helfern gebaut werden“, so Polizer.

Der Israeli besuchte in den vergangenen Monaten mehrere Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, um sich ein Bild der Situation zu machen. Erstaunt war er, als er sah, was für die Menschen am wichtigsten ist: „Man könnte glauben, dass Essen und ein warmer Schlafplatz die grundlegendsten Bedürfnisse sind. Es ist jedoch das WLAN“, sagt Polizer. „In einer der Unterkünfte, in der ich zu Besuch war, fiel plötzlich das Internet aus. Sofort war Spannung zu bemerken. Dabei geht es den Flüchtlingen nicht einfach darum, stundenlang im Internet surfen zu können. Das Internet ist ihr einziger Kontakt zu ihrer Familie, die sie meistens zurückgelassen haben.“ Die syrischen Flüchtlinge seien sehr aufgewühlt gewesen – bis das Internet wieder funktionierte.

Neben der Arbeit mit vorrangig syrischen Flüchtlingen plant die Organisation noch ein weiteres Projekt in Deutschland. IsraAid will einen Blick auf die Schicksale der Jesiden werfen. Seit August 2014 fliehen Angehörige dieser religiösen Minderheit im Norden des Irak vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die Islamisten verfolgen sie als „Ungläubige“, versklaven und ermorden sie. Die Bundesregierung hat einen Teil der geflohenen Jesiden, die sich mal als ethnische Kurden bezeichnen, mal als eigenständige ethno-religiöse Gruppe, in Deutschland aufgenommen. „Nun wollen wir zusammen mit deutschen Organisationen deren Geschichten und Zeugenaussagen archivieren“, erzählt Polizer. „Und mit ihnen auch ihre Traumata angehen. Die Jesiden haben im Nahen Osten einen Genozid durch den IS erlitten.“

Familie vom IS geköpft

IsraAid wird dabei die gleiche Art von Befragung verwenden, die in Israel zur Dokumentationen von Holocaust-Überlebenden dient. „Natürlich ist es uns wichtig, dass wir den Holocaust nicht mit dem Genozid an den Jesiden vergleichen wollen. Wir sind jedoch der Meinung, dass die Geschichte der Jesiden auch dokumentiert und für die folgenden Generationen festgehalten werden sollte.“ Es ist nur ein kleines Projekt neben der Hilfe für die syrischen Flüchtlinge, aber nicht weniger wichtig für IsraAid.

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Die jahrelange Arbeit mit Menschen hat Yotam Polizer sehr geprägt. Eine Geschichte ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben. „Wir haben eine Art Kunsttherapie mit Kindern in Griechenland gemacht. Ein 15-jähriger Junge hat dort seine Erlebnisse in Syrien und die Flucht in einem Bild festgehalten.“ Das Schicksal des Jungen und seiner Familie wurde schnell auf den Zeichnungen deutlich: wie die Familie vom IS geköpft wurde. Wie er in eine andere syrische Stadt floh, die dann vom Assad-Regime bombardiert wurde.

„Sein Onkel und er waren die einzigen Überlebenden“, schildert Polizer. „Als der Junge das Bild zeichnete, weinte er nicht. Ich habe ihm dann behutsam Fragen zu seiner Zeichnung gestellt. Es ging nicht darum, das Bild zu analysieren.“ Auf die Frage, ob er als Syrer ein Problem damit hätte, dass ihm Israelis helfen, habe der 15-Jährige geantwortet: „Nein, denn die syrische Regierung hat versucht, mich zu töten, die religiösen Gruppen haben versucht, mich zu töten, und nun helfen mir die Israelis.“

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